M. Mazbouri: L’émergence de la place financière suisse (1890–1913)

Cover
Titel
L’émergence de la place financière suisse (1890–1913)..


Autor(en)
Mazbouri, Malik
Erschienen
Lausanne 2005: Editions Antipodes
Anzahl Seiten
597 pages
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benedikt Hauser

Auf den ersten Blick spricht einen dieses Buch nur wenig an. Trockener und phantasieloser könnte sein Titel kaum sein. Dasselbe trifft auch für das Cover zu. Zu sehen sind – ohne gegenseitigen Bezug – ein leerer Panzerschrank, eine Dampflokomotive und zwei kleine Gegenstände technischer Natur. Was auch immer man damit bezwecken wollte, dem Inhalt angemessen ist dieser lahme Auftritt nicht. Eine attraktive Aufmachung, vielleicht sogar ein Quäntchen Pep wären hier am Platz gewesen, denn was Mazbouri zu bieten hat, ist Geschichte vom Feinsten: Ein sehr komplexer und anspruchsvoller Stoff, den der Autor nicht nur à fond beherrscht, sondern auch klar strukturiert und äusserst spannend darzustellen weiss. Wichtige neue Erkenntnisse fehlen ebenso wenig wie eine komplette Übersicht über den Stand der Forschung. Und nur allzu gerne stellt man fest, dass der Studie etwas eigen ist, was in Helvetiens Historiographie sonst äusserst selten anzutreffen ist: Humor und Witz. Das tut der Seriosität des Buches keinen Abbruch, ganz im Gegenteil: Der Facettenreichtum dessen, was gemeinhin als Finanzplatz Schweiz bezeichnet wird, tritt dadurch umso plastischer und einprägsamer in Erscheinung.

Bemerkenswert sind auch die Quellen. Zu erwähnen ist zunächst das Archiv des vormaligen Schweizerischen Bankvereins (SBV). Der Verfasser hat es sich mit langjähriger Hartnäckigkeit und Ausdauer erschlossen. Gelohnt hat es sich sehr wohl, und zu hoffen bleibt, dass man dies auch beim heutigen Aktenherr, der UBS, erkennt. Ferner ist es dem Autor gelungen, persönliche Papiere der Familie des langjährigen Verwaltungsratsdelegierten und späteren Präsidenten des SBV ausfindig zu machen. Hinzu kommen die historischen Bestände der Neuenburger Kantonalbank und zahlreiche öffentliche Archive im In- und Ausland wie beispielsweise dasjenige der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), das, wie man sieht, nicht nur für die Eisenbahn-, sondern auch für die Finanzgeschichte von wichtiger Bedeutung ist.

Das Buch besticht zunächst durch den Ansatz, die Geschichte des Schweizer Finanzplatzes sowohl makro- als auch meso- und mikroperspektivisch anzugehen. Ausgangspunkt bildet die Karriere von Léopold Dubois, ein Prototyp des modernen Managers, der es als Sohn eines einfachen Uhrmachers aus der neuenburgischen Provinz vom Primarlehrer an die Spitze einer der drei grössten Schweizer Banken schaffte. Mazbouri konzentriert sich dabei schwergewichtig auf die Zeit, in welcher Dubois die entscheidenden Kar rieresprünge vollzog und in leitender Position die Geschicke eines der führenden Finanzdienstleistungsunternehmen des Landes prägte: Geschildert werden zunächst der Wechsel des 41-Jährigen von der Direktion der Neuenburger Kantonalbank zur Generaldirektion der SBB (1901), dann – fünf Jahre später – der Übertritt in die Geschäftsleitung des SBV und seine Tätigkeit als Delegierter des Verwaltungsrates der Bank bis zum Ersten Weltkrieg. Dabei werden sowohl der allgemeine Kontext als auch die Stätten des Wirkens Dubois’ ausführlich beschrieben und auf ihre Spezifizität hin untersucht: Die beschauliche kleine Welt der Neuenburger Kantonalbank, deren Hauptsitz zugleich Wohn- und Arbeitsort ihres Direktors war, der Übergang um die Jahrhundertwende vom archaischen Free Banking mit einer Vielzahl kleiner und kleinster notenemittierender Banken zur sich neu formierenden Welt des Schweizer Finanzplatzes mit einer eigenen Währung und einem funktionsfähigen nationalen Noteninstitut, sowie schliesslich die Gründung der SBB, zu deren erstem CFO, wie es heute heissen würde, Dubois auf Ersuchen des damaligen Vorstehers des Eidg. Finanzdepartements (EFD), des Neuenburgers Robert Comtesse, berufen worden ist. Das Amt, das Dubois mit Erfolg und Anerkennung leitete, war eine äusserst anspruchsvolle Schlüsselposition: Zum einen galt es, ein leistungsfähiges Rechnungswesen aufzubauen und die Finanzierung des Staatsbetriebs auf solide Grundlagen zu stellen, und zum andern bedurfte es vertiefter Kenntnisse der Kapitalmarktmechanismen sowie der Pflege enger Kontakte zu führenden Banken im In- und Ausland, da es der Regie oblag, einen Schuldendienst von jährlich rund 30 Millionen Franken aufrechtzuerhalten und die Schuld langfristig zu amortisieren.

Mit Dubois’ Wechsel zum SBV rückt Mazbouri das Finanzgeschehen und die Anfänge der Basler Grossbank in den Vordergrund. Dubois hatte sich in seiner Position durch die politisch motivierten Vorgaben und das eigenmächtige Vorgehen des Vorstehers des EFD zusehends eingeengt gefühlt, und zudem war die neue Tätigkeit auch finanziell bedeutend attraktiver. Und vor allem war der SBV auf jemanden vom Schlage Dubois’ dringend angewiesen. Die bis vor kurzem noch vorwiegend lokal geprägte und primär als Vereinigung einzelner Platzinstitute agierende Bank hatte soeben eine Phase des intensiven Wachstums hinter sich gebracht, was sich allein in den Jahren 1895–1900 in einer Verfünffachung der Bilanzsumme und in einer verstärkten Präsenz mit neuen Stützpunkten in Zürich, St. Gallen und auch in London niederschlug. Das Vordringen nach Grossbritannien war als erster Schritt gedacht, mit welchem man sich eine – neudeutsch formuliert – unique selling proposition im Vergleich zu den Auslandstätigkeiten anderer Schweizer Häuser sichern wollte. Das Kalkül ging offensichtlich auf: «London» war erfolgreich, und die heimatliche Konkurrenz blieb der City noch lange Jahre fern. Spannungsfrei verlaufen war der Expansionsprozess indessen nicht: Verluste, Kurseinbussen, hohe Kosten, Demissionen und sogar ein Suizid sowie ein genereller Image-Schaden erforderten ein rasches Handeln. Dubois scheint hier der richtige Mann am richtigen Platz gewesen zu sein: Ein «hors-Teig», d.h. ausserhalb der Basler Traditionseliten rekrutierter Spezialist (S. 347), der seinen Aufstieg an die Spitze nicht einer bankinternen Hausmacht zu verdanken hatte, sondern sich primär mit fachlicher Kompetenz sowie mit seinem harten und konsequent top-down praktizierten Führungsstil durchzusetzen wusste. Am tief greifenden Wandel, den der SBV unter Dubois’ Leitung in nur kurzer Zeit vollzog, zeigt sich gleichsam exemplarisch, wie sich der Typus der landesweit und international aktiven Schweizer Grossbank herausgebildet hat, welche Möglichkeiten der sich neu formierende Finanzplatz bot und wie sich diese nutzen liessen. War beispielsweise der Schweizerischen Kreditanstalt in Zürich (SKA) und dem SBV gemeinsam, dass sie das sogenannte reguläre Bankgeschäft verstärkt favorisierten und sowohl im Inland als auch im Ausland expandierten, so gingen die beiden Institute zeitlich und auch geographisch unterschiedlich vor. Während die SKA schon relativ früh das Potenzial der Elektrizitätswirtschaft erkannte und zu diesem Zweck in enger Kooperation mit deutschen Partnerfirmen eigene Finanzierungsgesellschaften wie z.B. die Bank für elektrische Unternehmungen ins Leben rief, lag dieses Geschäft am Rheinknie zunächst ausschliesslich in den Händen der Basler Handelsbank und ihrer Tochtergesellschaft Indelec. Dubois griff hier korrigierend ein. Unbelastet von traditionsbedingtem Gärtchendenken und ohne sich in lokale Streitereien, in sogenannte «rivalités bâlo-bâloises» zwischen Basler Häusern, zu verzetteln (S. 371), optierte er für eine Vorwärtsstrategie, die konsequent auf die grosse Nachfrage der Industrie im Elektro-Business ausgerichtet war, um so den Vorsprung, den die Zürcher Konkurrenz besass, wettzumachen und mit dem Institut Alfred Eschers gleichzuziehen. Wie dies dem SBV gelang, kann hier mangels Platz nicht näher erläutert werden. Stichwortartig sei nur kurz erwähnt, dass Dubois im Unterschied zur SKA und des durch sie verfolgten Kurses der Nähe zur deutschen Hochfinanz auf Frankreich setzte, indem er mit Louis Loucheur, dem «Rathenau de l’électricité fançaise» (S. 371), kooperierte und so unter anderem der schweizerischen Elektrizitätswirtschaft das westliche Nachbarland als lukrativen Absatzmarkt erschloss.

Wie Mazbouri im Vorwort seines Buches festhält, deckt die vorliegende Ausgabe nur den ersten Teil seiner Recherchen ab; ein zweiter Teil soll später die Jahre vom Ersten Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise behandeln. Man wartet gespannt auf sein Erscheinen und wünscht sich, dass es dem Autor gelingt, auch die Archive weiterer Institute zu benützen. Dies könnte nur von Vorteil sein: Für die Banken und für die Geschichtsschreibung der Schweiz.

Zitierweise:
Benedikt Hauser: Rezension zu: Malik Mazbouri: L’émergence de la place financière suisse (1890–1913). Lausanne, Editions Antipodes, 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 482-484

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 4, 2006, S. 482-484

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